Grenze auch in den Köpfen öffnen

Die Grenze nach Frankreich ist offen. Für die Bürger an der Lauterbrücke ein Grund zur Freude. Auf Volksfeststimmung muss wegen der Corona-Verordnung verzichtet werden, stattdessen wird abends ein multimedialer Vortrag über Europa gezeigt. Doch hätte wirklich jemand richtig feiern wollen?

von Matthias Dreisigacker

rund 80 menschen verfolgten den vortrag klSCHEIBENHARDT/SCHEIBENHARD. Angemessener als mit einer eher die geoeffnete grenze in scheibenhardt klstillen Zusammenkunft kann man das Verschwinden einer Grenze, die man nicht mehr für möglich gehalten hatte, nicht begehen. An Montag wurden die Grenzschließungen und –kontrollen zwischen Frankreich und Deutschland aufgehoben. Abends haben sich rund 80 Bürger auf der deutschen Seite bei der Lauterbrücke versammelt. Hierzu eingeladen hat die Europa-Union Rheinland-Pfalz mit ihrem Vorsitzenden Norbert Herhammer. Mit einer guten Viertelstunde Verspätung geht es los. Volksfeststimmung ist anders: Der Ausschank von Speisen und Getränken ist nicht gestattet. Ein paar Stühle, eine Leinwand und dann rückt der Mainzer Politologe Ingo Espenscheid in den Mittelpunkt. Er präsentiert seinen multimedialen Vortrag „70 Jahre Schuman-Plan“, der bis heute als Geburtsinitiative der Europäischen Union gilt. Auf Initiative des französischen Außenministers Robert Schuman wurde 1950 ein gemeinsamer Markt für Kohle und Stahl geschaffen, der Rest war bis vor wenigen Wochen eine wirklich gute Geschichte. „Am Tag davor hat Ursula von der Leyen im Fernsehen noch gesagt, die Grenzen in Europa dürfen nicht schließen. Und am nächsten Tag war zu“, kommentiert hinterher der Scheibenharder Bürgermeister Gérard Helffrich den gespenstischen Vorgang. 

 

Jahrhunderte voller Hass und Missverstehen

Espenscheid wiederum fängt in der deutsch-französischen Geschichte ganz vorne bei Karl dem Großen an und arbeitet sich durch Jahrhunderte von Krieg, Hass und Missverstehen. Das macht er gut und am Ende gibt es den verdienten Applaus der Anwesenden. Dennoch mag so mancher durchaus das eine oder andere Mal durchaus gestutzt haben. So wenn er davon spricht, dass Europa vor dem Ersten Weltkrieg die „Nummer Eins in der Welt“ gewesen sei. Sei es bei Kultur, Wissenschaft, Erfindungen oder den Menschenrechten. Nun ja. In England oder Belgien landen die Denkmäler dieses großartigen Europas gerade in Hafenbecken oder werden beschmiert. Da darf man sich schon einmal die Frage stellen, weshalb es bis heute nicht für alle Menschen dieses Erdballs eine so feine Sache war und ist, am europäischen Wesen genesen zu dürfen. Oder am Ende, wenn Espenscheid sein Resümee auf deutsche Interessen verdichtet. Dabei spricht er doch eigentlich nicht vor deutschen Schulklassen oder Wirtschaftsführern, sondern einer sich als Einheit verstanden wissen wollenden Dorfgemeinschaft. Dennoch sind die Reaktionen der Leute freundlich und überwiegt die Dankbarkeit, einem optimistischen Zeichen für die Zukunft beigewohnt haben zu dürfen. 

Nach einer berührenden Nacht folgt der Schock

Mehrheitlich gehen die Besucher in Richtung des deutschen Ortskerns, während deutlich weniger über die Brücke den Heimweg antreten. Darunter ist das ältere Ehepaar Bortenkircher. Jean-Paul spricht von einem schönen Abend und darüber, dass die Abschottung hoffentlich bald vergessen sein wird. Es habe ihn „schockiert, als die Grenze wieder zugemacht worden ist. Mir gedenkt es noch 2003, als die Grenze aufgemacht wurde. Da stand hier ein großes Zelt und kamen viele Politiker. Die Nacht damals war berührend.“ Er ist Scheibenharder von Geburt und erinnert sich daran, wie er von seiner im deutschen Teil lebenden Patin seine Weihnachtsgeschenke abgeholt und an der Grenze den Rucksack aufmachen musste, weil die französischen Grenzer diesen kontrollieren wollten: „Am Anfang ging sogar immer mein Papa mit, weil ich so viel Angst vor dem Zoll hatte.“ Diese hatten Zoe Olivier und Marie Kahl im März nicht. Einerseits sprechen die jungen Mädchen darüber, dass es wegen des Virus’ richtig gewesen sei, die Grenzen zu schließen. Aber dass Elsässern in Deutschland einfach gekündigt worden sei oder man die Familienmitglieder auf der deutschen Seite nicht mehr besuchen durfte, haben sie nicht vergessen. Und dennoch sagen sie: „Frankreich und Deutschland bleiben befreundet.“ Das hofft auch Bürgermeister Helffrich, wenn er sagt: „Ich hoffe, dass es hier in unserer bescheidenen kleinen Welt weiter geht.“ Neben ihm steht die Departement-Abgeordnete Evelyne Issinger und befindet, dass sich heute nur die offiziellen Grenzen gelockert hätten, „aber jetzt müssen sich auch noch die Grenzen in unseren Köpfen und Herzen öffnen. Denn wir brauchen uns.“

Quelle: DIE RHEINPFALZ, Pfälzer Tageblatt - Ausgabe Rheinschiene, Mittwoch, den 17. Juni 2020